Saarbrücken
"Berlin Südkreuz" steht auf der Anzeigetafel, da fahren wir heute aber nicht mehr hin. Wir, das sind 19 Reisende, zwei Fahrräder und ein Kuchen. Der Türke aus Wagen zwei trägt den Kuchen am Griff einer dieser furchtbaren Plastiktortenuntersetzer mit Deckel, der rauchende Fahrradfahrer aus dem letzten Wagen hofft wie ich, daß wir nicht wirklich nach Berlin fahren. Obwohl, es wäre egal, um diese Uhrzeit ist alles egal. Wir fahren jedoch erstmal dahin, wo, glaubt man den Anzeigen am nächtlichen Busbahnhof, viele öffentlichen Verkehrsmittel von Saarbrücken aus fahren - nach Burbach. Irgend etwas muß Burbach zu einem beliebten Reiseziel machen. Nein, Burbach war nie Handlungsort eines wichtigen Ereignisses, mahnt das verstaubte Geschichtswissen zweifelnd.
Später schiebt sich der tonnenschwere Koloß aus Stahl durch Völklingen. Eine eiserne Hülle um viele leere Sitze. Wir sind 19, verteilt auf 4 Wagen Regionalexpress, hinten scheibt ein Triebwagen. Auf dem Platz, den ich besetze, saß vorher mein Widersacher, mein Anti-ich, ein Mensch, der die FAZ kauft und darin alles liest, außer dem Feuilleton. Die paar Seiten Feuilleton läßt er ungelesen und glatt auf dem Sitz liegen. Die Franzosen und ihr Hang zu Demonstrationen und Generalstreiks kommen darin schlecht weg, der Fernsehfilm, den das ZDF heute wohl gezeigt hat, ebenso. Boris Becker und der DuMont-Verlag. Zynische Kommentare, Leserbriefe, die sich um ein hohes sprachliches Niveau bemühen. Quälend, gestellt und unehrlich, aufgesetzt. Dann noch Kempowski und Feyerabend, Tote werden gelobt ob ihrer postum erschienenen Werke. Früher war alles besser. Ein Nachruf auf einen Prof. Dr. med., ein Gynäkologe. Trotz Blättern findet sich jedoch keine Todesanzeige jener Frau Prof. Dr., deren Beerdigung morgen stattfindet.
Von dem Fenster des Großraumabteils lässt sich nicht einmal der kleine Schlitz öffnen, der dazu gedacht ist. Abgesprerrt - Vierkant. Früher fuhr man Bahn, um mindestens eines der großen Fenster bis fast zur Taille herunterzudrücken um sich dann weit herauszulehnen und sich dem Fahrtwind auszusetzen. Dieser Luxus ist heute im Preis nicht mitinbegriffen. Das war einmal. Heute sind die Dinge anders. Heute kaufen sich zwar immer noch Studienräte den neu entdeckten Feyerabend im Pappschuber zum Sonderpreis und stellen ihn dann in das Ivar-Regal auf den ausgebauten Dachboden, aber heute ist auch Kempowski tot. Und ob Boris Becker noch einmal heiratet, wie RTL dieses Ereignis ausschlachtet oder was der FCBayern macht ist so egal wie immer. Novocaine for the soul und dann die Durchsage, daß der Ausstieg links und die nächste Station die letzte sein wird. Das Personal bedankt sich. Danke zurück. Der letzte Fahrgast steigt aus. Endstation. Man ist zwar da, aber doch nirgends angekommen.
(Bild: "No symmetry" http://www.flickr.com/photos/aguno/ / CC BY-NC-SA 2.0)
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